Zur Inszenierung: La Traviata am Nordharzer Städtebundtheater
Geschehen zwischen Wirklichkeit und Albtraum
Umjubelte Premiere von Giuseppe Verdis Oper „La Traviata“
Von Hans Walter, in: Magdeburger Volksstimme, 27.02.2012
Sagen Sie’s weiter: Diese „Traviata“ ist durchweg gelungen. Neun Minuten erbebte am Freitag das Große Haus Halberstadt des Nordharzer Städtebundtheaters bei Standing Ovations. Giuseppe Verdis Oper „La Traviata“ zog die Besucher magisch in die Premiere. Ausverkauft! Es wurde eine Sternstunde der Musik und des Dirigenten MD Johannes Rieger, der jungen Regisseurin Susanne Knapp und ihrer dritten Inszenierung am Haus und vor allem der Sängerin Bettina Pierags als Violetta.
Knapp nutzte die deutsche Übersetzung von Walter Felsenstein. „La Traviata“ – die vom rechten Weg Abgekommene. Mit dieser Entscheidung für realistisches Musiktheater war eine Voraussetzung für ein spannendes Ereignis gesetzt. Konsequent hielt sie das Geschehen zwischen Wirklichkeit und Albtraum in der Waage, eingedampft um einige kleine Rollen. Die Ausstatterin Susanne Bachmann hatte ihr dazu die theatralischen Räume in den Farben der 200. Jubiläumsspielzeit gebaut – in Schwarz, Weiß und Gold. Ein großer Bilderrahmen bestimmte im Hintergrund die Szene. Wie im Traum agierten Chor und Solisten in diesem Passepartout, um dann aus dem Rahmen in die Realität herauszutreten. Die Kostüme und das gesamte Ensemble wirkten wie ein Rembrandt-Gemälde in Sepia-Tönen; das kunstvolle Licht wurde von Holger Hofmann designt.
Eine Fülle symbolhafter Elemente (die Mondscheibe im verschiedenen Zustand, der Traum vom Fliegen und der weiße Vogel, die Krähen in Geräusch, Maske und Handlung) wirkten wie eine zeitlose Ergänzung des Kammerspiels um Violetta Valery – der durch Rückzug aus der Gesellschaft der Liebe entsagenden und letztlich dadurch todsterbenskrank verwundeten „Kameliendame“. Ein grandioses Spiel! Je enger die Personage in diesem Kammerspiel den Zuschauern nahe rückte, desto zeitgemäß-modischer wurden die Ausstattungsdetails: die Pappbecher-Trinkkultur beim Ball. Der Schweinekopf im Anfangsbild für Alfred. Die lange Lederhose unter dem Mantel für Vater Germont, der dadurch letztlich als auf Violetta scharfer Bock charakterisiert wurde. Die Domina-Kostümierung der Frauen … Alle diese Verkleidungen aber fielen unter dem klaren, aufrechten Blick Violettas in ihrer Not zunehmend in sich zusammen. Übrig blieb die Sicht auf Wesentliches – nicht auf die zweifelhafte Moral. Auf den Menschen und seine ehrlichen Gefühlsregungen. Auf Liebe ohne Verstellung, aber mit ungeheurem Leid.
Diese fantastische Absicht der Regie wurde durch Bettina Pierags spielerisch und besonders im Gesang vollkommen gestützt. Eine ganz wundervolle Sängerin – wie schon in ihrer beispielgebenden Interpretation aller drei Frauenrollen in „Hoffmanns Erzählungen“. Jede Emotion, jede Handlung wurde in Musik ausgedrückt. Kein Triller war unsauber, kein Melodiebogen verschleift. Sie ist eine Persönlichkeit der höchsten Ansprüche für schönsten Belcanto. Das Haus kann sich glücklich schätzen, dass sie sie als Koloratursopranistin hat. Daneben haben es die Männer an ihrer Seite naturgemäß schwer, dagegen anzukommen. Der Chinese Xiaotong Han zeigte Alfredo bis hin zum Duell mit dem Baron (Norbert Zilz) als lyrisch Liebenden und dann dramatisch Verzweifelten. Bei den Höhen wurde dem ansonsten strahlenden Tenor die Stimme oft eng. Der finnische Bassbariton Juha Koskela gab Germont die beeindruckende Kontur. Aber von seinen Ausbrüchen waren nur Bruchstücke zu verstehen. Die Töne ja. Der Text nein. Früher, in Glanzzeiten des Theaters, gab es mal die Textbücher zum Nachlesen an der Kasse.
Das Ensemble insgesamt und der von Jan Rozehnal studierte Chor leisteten szenisch und gesanglich Herausragendes. Wie auch das unter Musikdirektor Johannes Rieger in vollem Wohlklang aufspielende Orchester – es musizierte aus tiefstem Gefühl die ergreifende Herzenstragödie. Wie kann er bei aller Not durch derzeitige Existenzbedrohung des Theaters solche subtilen Gefühlsregungen gestalten? Vielleicht ist es eine Art Riegers, sich mit Kunst zur Wehr zu setzen.
Lieben und leiden
Lieben und Leiden
Uwe Kraus, in: Mitteldeutsche Zeitung, 28.02.12
Warum bleibt das Publikum nicht den einen Augenblick ergriffen sitzen und denkt „Wow, was für ein Opernerlebnis“? Kaum war der letzte Ton verklungen, der letzte Lebenshauch einer großartigen Violetta entflogen, sprangen einzelne Zuschauer auf, die hinter ihnen folgten, um die sich verdient verbeugende Reihe der Künstler sehen zu können. Und so schwappt eine applaudierende Körperwelle durch den Zuschauerraum. Dass dies seit Monaten bei jeder Inszenierung geschieht und zudem der Versuch unternommen wird, immer neue Dauerklatschrekorde zu brechen, entwertet teilweise die große Leistung, die man bei der Premiere von Verdis „La Traviata“ am Nordharzer Städtebundtheater erleben durfte.
Regisseurin Susanne Knapp reduziert das Werk auf eine fast kammerspielartige, 140-minütige Fassung, weniger auf ein Spiel über eine verkommene Moral als vielmehr auf Akteure: Menschen, die tief lieben und unendlich daran leiden. Der Zuschauer erfährt den Mythos „Violetta“ in einer ganz speziellen Sichtweise, die durch die Bilderrahmen-Ausstattung von Susanne Bachmann verstärkt wird. Dieser Kunstgriff erlaubt einen Drehtür-Effekt des Hinüberwechselns ins „wahre“ Leben. Die opulente Kostümierung der Akteure einer morbiden Gesellschaft verstärkt die Galerie-Atmosphäre. Nur Bettina Pierags als Violetta scheint im Unschuldsweiß gewandet, bis man die blutigen Spuren ihrer Krankheit und der durch die Welt zugefügten Verletzungen wahrnimmt. Ihre Flügel scheinen gebrochen.
Das Bild von der Flügel verleihenden Liebe, des Fortschwebens zieht sich fast Ikarus-mäßig durch die ganze Aufführung. Dieses Knappsche Regiekonzept macht sich Bachmann zu eigen, die das Publikum ins Heineanum schickt, eine Sammlung bunter Gesellschaftsvögel zu betrachten, während die Bühnenumbauten vom Gekrächze der Krähen begleitet werden. Die Ausstattung wirkt spartanisch, doch keineswegs karg; neben dem riesigen Bilderrahmen ein paar Versatzelemente, ein großer Mond in verschiedenen Phasen, eine große Schaukel, die Erholung wie das Schweben zwischen den Sphären symbolisiert.
Im Augenblick der Liebe keimt in der von Krankheit Gezeichneten das Sehnen nach Dauer. Bettina Pierags lebt diese Rolle in Gesang und Spiel gleichermaßen. Detailreich zeichnet sie, dem melancholischen Grundgestus der Musik folgend, mit fast spielerischer Leichtigkeit der Koloraturen die Violetta, die morbid-erotisch einen Lebenshalt in der Liebe zu Alfredo sucht. Ohne Brüche in den Registerübergängen mit Leuchtkraft in der Stimme, stark in Lyrismen wie im dramatischen Ausbrechen berührt sie die Zuhörer.
Schön, dass ein solches Haus wie das Halberstädter die Partien aus dem eigenen Ensemble besetzen kann. Bariton Juha Koskela strahlt als Giorgio Germont väterliche Autorität aus. Er zeichnet ihn recht präsent, mit kleinen Abstrichen in der Textverständlichkeit, aber eindrucksvoller Mittellage und Sicherheit in den Höhen in einer Ausgewogenheit von sorgender und strenger Väterlichkeit, wobei er Violetta durchaus nicht desinteressiert gegenübertritt.
Xiaotong Hans Alfredo gefällt in den lyrischen Passagen und in seiner Verzweiflung, ohne jedoch in den Höhen immer mit stimmlichem Glanz überzeugend punkten zu können. In der wunderbar besetzten Inszenierung fielen zwei Frauen auf: Regina Pätzer als Augen wie Ohren fesselnde Flora, die dominahaft ihre Reize ausspielt, und Christine Köppe als treu sorgende Annina.
Jan Rozehnal vermag es, seinen verstärkten Chor nicht nur bestens in Szene zu setzen, sondern führt ihn zu einem Klang-Ereignis. Johannes Rieger im Orchestergraben zelebriert beginnend mit ätherisch klingenden Geigen einen Verdi, der viel Raum für Emotionen bietet. Dabei offenbarte sich ein durchaus sensibles Eingehen auf die Bühnenakteure, aber auch das Bemühen, kontrastreich zu musizieren. Insgesamt ein Opernerlebnis, das stehende Ovationen verdient, egal in welcher Länge.