Zur Inszenierung: Der arme Matrose [und Warteschleifen]
Meerestiefe der Utopie: „Der arme Matrose“
Von Carsten Niemann, Tagesspiegel, 29.06.2003
Wie geht es weiter mit der Oper? Während die Freunde der wertvollen Kunstgattung mit eingezogenem Kopf nach Neuhardenberg schielen, ob von dort das Freizeichen zum Schwingen der Fusionskeule ertönt, versprechen ihnen drei Berliner Produktionen mit Nachwuchskünstlern Trost.
Was könnte aufmunternder sein, als jungen Menschen zuzuhören, die sich – unbeeindruckt von vagen Berufsaussichten – unplugged und mit offenen Kehlen ganz der traditionsreichen Gattung anvertrauen? Zumal wenn sie es so mutwillig freiwillig tun wie jene Berliner Hochschulabsolventen, die sich im „Theater Zerbrochene Fenster“ zusammenrotten für „Der Arme Matrose“, eine kurze Oper von Jean Cocteau und Darius Milhaud aus dem Jahr 1927. Eine Frau wartet auf ihren Mann; als der nach langer Zeit von der See zurückkehrt, erkennt sie ihn nicht und erschlägt ihn. Nicht allein eine maliziöse Botschaft für alle vertrauensvoll Wartenden, sondern auch Anlass, sich Gedanken über die Unvereinbarkeit von Bild und Wirklichkeit des Geliebten und zur Meerestiefe unserer Träume zu machen.
Dies geschieht am eindringlichsten in der Prolog-Performance „Warteschleifen“. Bohrende Gedankenstimmen kreisen um das Bett der Wartenden („Du hast mir ein Loch ins Gemüt gebrannt. Das gebe ich nicht wieder her.“) Dagegen wirkt Susanne Knapps sparsame Inszenierung der Oper zu eindeutig. Zwar werden die Hauptfiguren von drei Tänzern poetisch gedoppelt, doch die stimmliche Strahlkraftanstrengung des Matrosen Eugen Duvnjak und die knarzende Übersetzung holen den Abend zu früh von schwankenden Planken an Land. Eine verschenkte Chance, mit den Qualitäten der stimmlich qualifizierten Besetzung zu protzen, in der der Bass von Tye Maurice Thomas besonders auffällt. Wo das doppelzüngige Wort so wichtig ist, müsste es der Opernsänger an sprachlicher Intensität mit dem Liedsänger aufnehmen…
Von der Ferne des Meeres
Ostern im Putbusser Theater
OAZ 16.04.2003, über Joseph Haydn: „L’isola disabitata“ und Darius Milhaud: „Der arme Matrose“
Putbus – (OAZ) Am Meer. Zwei Frauen in zwei verschiedenen Opern. Beiden ist der Mann durch das unbeständigste aller Elemente abhanden gekommen. In ihrer Hafenbar wartet die eine seit 15 Jahren auf ihren Mann, der als Matrose auf Glückssuche ging. Nicht weniger lange sitzt die andere schon auf einer Insel fest. Sitzen gelassen. Das Hoffen hat sie schon aufgegeben. Dann eines Tages kehren sie zurück, der eine wie der andere. Ob die Liebe damit jedoch schon die letzte Klippe umschifft hat, bleibe dahingestellt…
Es handelt sich um zwei Opern, die direkt am Meer spielen. Einmal ist der Schauplatz ein Hafen, einmal eine Insel. Die Titel verraten es bereits. In beiden Opern wartet eine zurückgelassene Frau lange Zeit in Treue auf Ihren Mann. In beiden Opern kommt er nach langen Jahren zurück: Bei Haydn nimmt es ein gutes, bei Milhaud ein tragisches Ende. Diese in unterschiedlichen Zeiten (18. und 20. Jahrhundert) bearbeitete Thematik des Wartens, der Ferne des Meeres, der Sehnsucht, Erfüllung und Tragik in der Kombination dieser beiden Werke gemeinsam auf der Bühne zu sehen, sollte sehr reizvoll sein.
Zur Inzenierung: Warteschleifen I und II
Ordnung im Chaos – schwierig aber ausdrucksstark
Moderner Tanz: Die Vereinigung junger Künstler Berlin forderte viel vom Publikum
Neue Westfälische, 5.April 2004
Paderborn (rgk). Waren es die Stimmen krankhaft Liebender? Der Göttersuchenden? Oder der einsamen, in ihre eigene Wirklichkeit eingehüllten Menschen, die auf die Zuschauer niederfielen? Und die Bewegungen: Starr, verkrampft und dann wieder gelöst, wild und schwerelos – Befreiungsversuche eines rastlosen, unruhigen Geistes?
Fragen über Fragen, die bei der Tanz-Performance „Warteschleifen“ der Vereinigung junger Künstler Berlin in der Kulturwerkstatt an das Publikum herangetragen wurden. Eine schwierige, abstrakte Darstellung von drei Tänzerinnen und vier Sprechern, ausdrucksstark und grotesk.
Mit Wörtern und Satzfetzen aus Zitaten von Max Frisch, Friedrich Nietzsche, Novalis oder Charles Baudelaire errichteten die Sprecher zunächst ein verbales Chaos, das von den Tänzerinnen mit ekstatischen Bewegungen kommentiert wurde. Keine Frage: Die Auftaktveranstaltung des „Forum Moderner Tanz“, zu dem am Wochenende die Städtische Musikschule mehrere Künstlergruppen eingeladen hatte, war provokant und exzentrisch.
Und dennoch schien sich das Chaos nach und nach zu lichten.
Die ewiggleichen Satze, in unterschiedlicher Reihenfolge, zum Teil parallel gesprochen, dazu mal dumpfe, mal schrille Musik ermöglichten eine Ordnung im Chaos. Wiederholung strukturiert, und so konnte der Zuschauer nach einiger Zeit Geschichten im Wirrwar der Worte ausmachen, Geschichten, zu denen die Darsteller allerdings nur Denkanstöße gaben, die sich eigenständig im Kopf des Zuschauers entwickelten.
Und die Bilanz? Sind wir alle Tänzer, die gegen ihr inneres Chaos kämpfen? Haben wir alle Bilder und Begegnungen in uns, die immer wieder in unser Bewusstsein drängen, das Chaos lichten? In derartig abstrakten Inszenierungen wie der „Warteschleifen“ gelingt eine Verbindung zum Zuschauer nur mühsam.
Letztendlich wird jeder Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen, wenn es darum geht, einen Sinn hinter den Worten, der Musik und den Bewegungen zu finden. „Wir sind die Verfasser der Anderen, der Andere ist unser Erzeugnis, unser Opfer“, beschwor am Ende einer der Sprecher das Publikum. Wie sehr der Andere, der Zuschauer, von der Vereinigung junger Künstler Berlin wirklich beeinflusst wurde, mag jeder für sich selbst entscheiden.